Leserbrief zur BZ vom 30. August 2011 bzgl. einer Annonce "Schuldenlüge"

In der BZ vom 30.8. las ich in einer Annonce von der „Schuldenlüge“, wohl bezogen auf die angemahnten Millionen-Kosten der neuen Grundschule Nord in Bremervörde. Auf einer Seite davor fand sich ein Interview mit der Arbeitsagentur Stade zum Karriereproblem der Frauen in unserer Region. Die IHK klagt über zunehmenden Fachkräftemangel und glaubt dieses Problem (allein) durch eine „Leuchtturm“-Grundschule beheben zu können? Wo bleiben Ihre familienfreundlichen Jobangebote?

02.09.11 –

Wir leben in dem Kreis mit einer der höchsten Niedriglohnquoten Deutschlands. Wir haben keine flexible Kinderbetreuung, wir haben viel zu wenig Ganztagsangebote in KiTa und Schule, um ein attraktiver Berufsstandort zu sein.

Was nützt uns da eine Schule mit Raumkapazität und ökologischen Standards – so wünschenswert diese auch sind - , wenn es in ganz Bremervörde keine bedarfsgerechte Betreuung gibt, kein einziger Betriebskindergarten existiert,
wenn die alleinerziehende Mutter nicht um 6 Uhr zur Schicht bei GetiWilba erscheinen kann, weil ihr Kind nicht versorgt ist, wenn sich die Mutter nur einen Abendjob an der Kasse leisten kann, weil dann der Mann  zuhause ist, wenn das Schulkind bei Schulanfang 6 Jahre lang kein Wort Deutsch gesprochen hat, wenn die Klassen nicht mit zwei Lehrern besetzt sind, wenn diese zudem nicht pädagogisch auf dem Stand Hartmut von Hentigs sind, wenn das Kind ohne Frühstück in der Schule erscheint,
wenn das Geld für den Wandertag fehlt, wenn die Eltern den Fußballverein nicht mehr bezahlen können, weil der seine Mitgliedspreise erhöhen musste, wenn die erworbene Lesefähigkeit durch kein aktuelles Buch der Stadtbücherei mehr gefördert werden kann, wenn der optimal ausgebildete Grundschüler in Bremervörde kein Schwimmabzeichen mehr machen kann, wenn er mit seinem Fahrrad durch Schlaglöcher zu Fall kommt, wenn er nach der Grundschulzeit in ein ständig überhitztes Gymnasium kommt oder in eine Realschule, die ihm unter den Füßen wegbricht, wenn schließlich für den gut ausgebildeten SekI-Schüler die 50 Euro Fahrgeld für die Monatskarte zur Oberstufe fehlen, wenn der autolose Jugendliche um 8 Uhr ein Vorstellungsgespräch in Rotenburg hat, dort aber mit dem Linienbus gar nicht hinkommt, und wenn er später - wegen „Überqualifikation“ (ha!) – von einem Praktikum zum nächsten wandert???  

Für eine Stadt, die es nicht schafft, ihre Förderschüler zu ihrer Schulmensa an der Hauptschule zu befördern, die einen Zaun zwischen Schulen duldet, die ihre Volkshochschule in einer Baracke versteckt, die junge Leute mit dem Wunsch nach einem Kino als Bildungsgegner diffamiert, ist eine „Leuchtturmprojekt“ Perlen vor die Säue.

Eine „gute“ Grundschule entlässt noch keine individuell geförderten Abiturienten, die nach dem Studium mit Freuden in die Provinz zurückkehren, auch keine Realschüler, die für den technischen Beruf optimal ausgebildet sind, und keine Hauptschüler, die für unsere Region geeignete Facharbeiter werden.

An einem Punkt einmal anzufangen, ist sicher die beste Möglichkeit, voranzukommen, aber sie nützt nicht wirklich, wenn keine Kapazität mehr vorhanden ist für die anderen Baustellen, die sich durch eine neue Grundschule keineswegs beheben lassen. Eine Schwalbe macht leider noch keinen Sommer, eine neue Grundschule leider auch noch keinen attraktiven Standort Bremervörde.
Dem neuen Rat wünsche ich viel Phantasie zur Finanzierung seiner Ziele!

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